Das Mädchen Adele..


„Wenn die Sonne untergegangen ist kommen die Geister“, heißt es in den alten Geschichten aus Afrika.
Dabei haben wir die Erfahrung gemacht, dass der Geister- und Hexenkult auch heute noch allgegenwärtig ist und diesen Kontinent im täglichen Leben begleitet.  Es hatte in bestimmten Phasen unserer Reise durch das Land, angefangen in Lome und weiterführend bis nach Solla, den Anschein, dass selbst hoch gebildete Menschen in für sie typischen Situationen diesem Kult erliegen und Richtungen der Zombie–Kultur aufgreifen.
So hat sich aus längst vergangenen Jahrhunderten der Glaube aufrechterhalten, die Toten könnten zurückkehren und möglicherweise den Lebenden Leid antun. Wir haben erlebt, wie das Zombie-Phänomen selbst unter Christen noch immer verankert ist und es der Kirche schwerfällt Tendenzen schon im Frühstadium zu begegnen.
Eine weitere Richtung ist das Beschuldigen von „Hexen“, das in den kleinen Dörfern ausgerufen wird, falls Unglücke in der Familie oder Teilen der Dorfgemeinschaft auftreten.
Wir haben eine Frau und ein Mädchen kennengelernt, die Opfer solcher Praktiken geworden sind.
Das Mädchen, ich nenne es einmal Adele, obwohl ich den richtigen Namen kenne, war bis zu unserem Kennenlernen in sehr labilen Familienverhältnissen aufgewachsen. Die Mutter hatte die Familie im Stich gelassen, der Vater zeitweise in Nigeria auf Arbeit war nach Monaten  wiedergekommen und plötzlich verstorben, ein Grund Adele zur Hexe auszurufen.
Sie wurde aus der noch bestehenden Großfamilie ausgestoßen und erhielt Obdach in der kleinen katholischen Gemeinde in Solla, mit all den bis zu diesem Zeitpunkt traumatischen Erfahrungen ihres ca. 15 jährigen Lebens.
Es dauerte keine zwei Tage da hatte sich ein Vertrauensverhältnis zwischen meiner Frau Maria und Adele aufgebaut und so war es nur selbstverständlich, dass sie auch bei den Mahlzeiten neben ihr Platz nahm.
Sie redete fast nie und dennoch zeigte dieses arme Geschöpf  zeitweise ein für ihre mädchenhafte Gestalt unfassbares Gewaltpotential, so dass es in Krisensituationen nur durch ein längeres, ruhiges Gespräch der Sozialarbeiter möglich war, sie auf „Normaltemperatur“ zurückzubringen.
Sobald sie die Nähe der schützenden Pfarrei verließ war die Versuchung groß,  gepanschten Alkohol zu trinken, giftige Gase einzuatmen, um in tranceähnliche Zustände zu verfallen oder den Körper mit obskuren Medikamenten vom Markt ruhig zu stellen.
Begleiterscheinungen waren Sucht-und Wutanfälle sowie Diebstähle aller Art und so wurden wir gewarnt, auf unsere Sachen aufzupassen.
Das Pfarrbüro war stets verschlossen und dennoch passierte es selbst im Beisein des Pfarrers, dass eine größere Geldsumme in Richtung Dorf unterwegs war, er hatte es zum Glück gerade noch gemerkt und uns zum Abendbrot diese Tatsache mitgeteilt, um unsere Sinne zu schärfen.
Adeles Wohnort war ca. 10 km entfernt und bei einem unserer Rundfahrten zeigte sie uns stolz ihren heimatlichen Hof, der von einer besonderen Armut gekennzeichnet war.
Alle Erwachsenen waren auf dem Feld, elternlos wie sie war, machte sie sich auf den Weg diese suchen, um Sie uns vorzustellen.
Leider hatte sie mit ihrem Vorhaben kein Glück.

 

 

 

Wir beobachteten in der Zeit des Wartens ein größeres Feuer in der unmittelbaren Nachbarschaft, was aber für die übrigen Kinder nicht Besonderes war, ein Grund für uns nicht in Hektik zu verfallen.
Die Flammen ergreifen in solchen Situationen alles Dürre auf dem Feld, Äste, Halme und Sträucher, alles Brennbare wird Teil eines großen Funkenflugs und in Sekundenschnelle niedergebrannt, Plamen bleiben unberührt und nur schwarze Stellen am jeweiligen Baumstamm zeugen vom Angriff des Feuers.
Dabei erreichen die Feuer Höhen von 4 bis 5 Metern und wären selbst im heimatlichen Garten furchteinflößend, doch dort hätte ich wenigstens Wasser zum Löschen, hier hatte man nichts.

Für mich versinnbildlichten die schnell emporschießenden, zügellosen Flammen das Gemüt dieses afrikanischen Mädchens, dass ein paar Tage später auf ihre kleineren Brüder mit einem großen Stein losging und immer in der Solla-Sprache rief: „Euer Blut muss fließen“. Ich kam gerade noch hinzu als der Größere, ca. 12 Jahre alte Junge ebenfalls einen Stein aufhob, um sich zu verteidigen. Als ich ihn anherrschte, er solle den Stein niederlegen, Adele hatte ich mit ihrem Stein zu diesem Zeitpunkt noch nicht hinter der Hausecke gesehen, da traten Tränen in seine Augen, er ließ sofort den Stein fallen, fasste seinen kleineren Bruder bei der Hand und ging in den Hof zurück.
Für mich ein Moment in Afrika, den ich, obwohl zum Glück nichts passiert war, nicht vergessen werde.
Ich hatte Afrikas vergessene  Kinder gesehen.